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Zwölfton in Einbeck

Am Wochenende nach Ostern fand in Einbeck die Jahrestagung des Arbeitskreises für deutsche Dichtung statt. Die Stimmung im Vorfeld war mies. Im Vorstand wurde die Frage laut, ob man das geplante Treffen nicht rechtzeitig stornieren sollte, um unnötige Kosten zu vermeiden. Auf meine Antwort, ich sähe dazu keinen Anlaß, erhielt ich den Entwurf einer Tagesordnung, in der wieder einmal – nach 2012 und 2014 – über eine Vereinsauflösung abgestimmt werden sollte. Es gelang mir, die Vorstandsmehrheit zu einer anderen Tagesordnung zu bewegen. Schließlich war es die erste Tagung, die ich nach meiner Wahl zu organisieren hatte, und diese wollte ich nicht von Kapitulationsgedanken überschattet sehen. Die Organisation gestaltete sich auch nicht einfach, ich erhielt von möglichen Referenten viele Absagen und etliche Halbzusagen. Als ich fristgerecht einlud, waren nur wenige Vortragende fest und einiges ungewiß. Die Einladung war also nur eine Programmskizze, kein fester Ablaufplan. Das ist mir sicher von vielen Mitgliedern übelgenommen worden. Vor Ostern berichtete mir der Kassenwart Reiner Niehus, die Anzahl der Anmeldungen sei auf einem Rekordtief.
In der letzten Woche vor der Tagung gab aber auch Ermutigungen. Dr. Baal Müller und Dr. Björn Clemens meldeten ihre Bereitschaft, kostenpflichtig an der Tagung teilzunehmen und dort auch honorarfrei zu referieren. Alexander von Hohentramm fuhr in Neustadt an der Orla vor, um Bücher für den Büchertisch abzuholen und bestätigte ein Treffen am Arnstädter Hauptbahnhof, von wo aus wir dann gemeinsam im Automobil nach Einbeck fuhren und in Salzderhelden weitere Anreisende vom Bahnhof abholen wollten. In den letzten Tagen kam sehr viel elektronische Post, eine Sprachregelung, die ich als Lehnübersetzung nicht sonderlich treffend finde. Obgleich der Fernsprecher heute nicht mehr mit Wählscheibe und Relaisschaltung, sondern digital funktioniert, sprechen wir immer noch von Telefon und Telefonat, also von Fernsprecher und Ferngespräch. Auch »fernmündlich« ist noch im Gebrauch. Analog sollte man sein elektronisches Postfach »Fernschreiber«, die Nachricht »Fernschreiben« und die Kommunikationsform »fernschriftlich« nennen. Das Medium ist nämlich nicht neu, sondern nur technisch verbessert und einem erheblich größeren Benutzerkreis zugänglich. Das verlangt aber keine Neubenennung. Pfeffer heißt auch noch Pfeffer, obgleich mit ihm heute nicht nur Pfeffersäcke würzen, sondern das ganze Volk.
Ich erhielt also jede Menge Fernschreiben mit organisatorischen Dingen, aber auch solche mit reiner Vorfreude. Der Freitag nach Ostern wurde der bisher heißeste Tag im Jahr, der Frühling brach sich machtvoll die Bahn, die Sonne gab alles. Ich zog nach der Morgenkühle zunächst den Mantel, bald auch Jakett und Pullover, schließlich sogar das Unterhemd aus und trug das Oberhemd auf der nackten Haut, als ich meine Begrüßungsrede hielt. Mit zwanzig Leuten war der Kreis so klein wie nie, aber völlig anders strukturiert. Die umgekehrte Alterspyramide war einer breiten Verteilung der Lebensalter zwischen dreißig und neunzig gewichen, die Hälfte der Teilnehmer stand noch im Erwerbsleben. In der Begrüßungsrede nahm ich die meisten Dinge vorweg, die ich am Tag darauf im Bericht des Vorstandes ausführen würde. Zur Diskussion kam es, als ich begründete, warum ich eine vom Vorstand beschlossene Werbeanzeige in der »Jungen Freiheit« noch in die Zukunft verschoben hatte. Die Verjüngung und damit einhergehende Neurorientierung des Arbeitskreises erschien mir nicht weit genug forgeschritten, um sich so weit aus dem Fenster zu lehnen. Diskutiert wurde aber nicht meine Verschiebung der Werbekampagne, sondern der Vorstandsbeschluß als solcher. Ein Mitglied kritisierte, der Beschluß sei unverantwortlich, weil man ohne Mitgliederbefragung alle und insbesondere die Tagungen dem Risiko von Angriffen aus Antifa-Kreisen ausgesetzt habe. Die Agnes-Miegel-Gesellschaft sei unlängst auf bestürzende Weise Hetze und tätlichen Angriffen ausgesetzt gewesen, man solle doch nicht ähnliches durch Zugehen auf politische Medien provozieren. Bei den vielen Wortmeldungen wurde der Vorstandsbeschluß ausdrücklich unterstützt. Zum einen sei die »Junge Freiheit« nicht ansatzweise so skandalös, wie es gelegentlich kolportiert werde, sie habe sich gar den Spottnamen »Junge Feigheit« eingehandelt, weil sie bei Autoren und Themen und sogar bei Anzeigenkunden stets ängstlich darauf schiele, ob ihr das nicht zum Nachteil ausgelegt werden könne. Zum anderen habe die zwar im Anspruch politische Wochenzeitung einen ausführlichen Kulturteil und werde von einem großen Publikum gerade wegen der Kulturbeiträge gelesen. Schließlich gebe es gar keine Alternative für konservative Kulturinteressierte. Zusammenfassend sei die Zeitung das einzige Medium, wo auf ein befriedigendes Verhältnis von Kosten und Nutzen gehofft werden könne. Auch bei der Antifa-Bedrohung handelt es sich um ein Phantom. Die Agnes-Miegel-Gesellschaft wurde nicht wegen unvorsichtiger Schritte terrorisiert. Dem Zeitgeist war es ein Ärgernis, daß es in Deutschland so viele Agnes-Miegel-Straßen und -Schulen gibt, also mußte medialer Druck auf die Stadträte und Schulträger ausgeübt werden. In diesem Gesamtfeldzug kriegte natürlich auch die Agnes-Miegel-Gesellschaft ihr Fett weg. Wenn bei jeder Veranstaltung Polizeieinsätze nötig sind, ist es leicht, in der Berichterstattung zum mindesten eine Teilschuld dem Veranstalter zuzuschieben und überhaupt der oberflächlichen Wahrnehmung zu suggerieren, Agnes Miegel und ihre Freunde stünden gegen den öffentlichen Frieden. Damit kommt eine Welle von Distanzierungen in Gang, die in Verbindung mit tendenziell gekürzten Richtigstellungen ein Klima schaffen, wo keiner mehr mit der Dichterin in Verbindung gebracht werden will. Eine solche Kamapne ist gegen den Arbeitskreis ausgeschlossen. Die Umerziehung ist so weit fortschritten, daß die Minderheit, welche den Begriff der Dichtung noch positiv besetzt, instinktiv ein historisches Phänomen vor Augen hat. Da wäre jede Kampagne eine unerwünschte Aufwertung, und unsere Gegner wissen sehr genau, daß wir in der Schweigespirale selbst für die unsachlichste Diskussion noch dankbar sein müßten. Undenkbar, wenn sich herumspäche, daß die deutsche Dichtung nicht etwa tot, sondern eine Gefahr für die freiheitlich demokratische Ordnung sei.
Nachdem die Saite Agnes Miegel bereits angeschlagen war, referierte Frau Dr. Marianne Kopp, Vorsitzendes der Agnes-Miegel-Gesellschaft über das Märchenspiel „Zein Alasman“ von Agnes Miegel, ein wenig bekanntes Werk, das eine Geschichte aus den Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht neu gestaltet. Die sich daran anschließende Diskussion behandelte weniger das besprochene Werk als die Umstände des gescheiterten Bürgerbegehrens, mit dem versucht wurde, die Entfernung des Denkmals aus dem Kurpark in Bad Nenndorf zu verhindern. Heute steht die Mädchenskulptur des Essener Bildhauers Ernst Hackländer auf Privatgrund. Diesen Umstand muß man nicht unbedingt bedauern. Immerhin ist sie so gegen Schmiererei und Beschädigung geschützt und überdauert für eine bessere Zeit. Auch der Bildhauer wird inzwischen als »Antisemit« diffamiert, weil er Schrott-Sklupturen nicht als gleichwertig angekennen will, ganz zu schweigen von dem Finanzier des Bronzegusses Willibald Völsing, dessen »Unbelehrbarkeit« man nicht müde wird, zu betonen.
Die Argumentation der Referentin, Agnes Miegel würde einzig wegen zwei huldigenden Versen an Adolf Hitler in einem Gedicht angegriffen, muß man kritisieren. Eine solche Verniedlichung erscheint mir unangebracht. Agnes Miegel war Mitglied im Wartburgkreis, Vorstandsmitglied der Preußischen Akademie der Künste, unterschrieb den Aufruf der Kulturschaffenden, die Ämter des Reichskanzlers und des Reichspräsidenten zusammenzulegen, nahm das Ehrenzeichen der Hitlerjugend entgegen, trat 1940 der NSDAP bei.
Zweifellos setzte Agnes Miegel wie Millionen Deutsche (und auch Millionen Ausländer) große Hoffnungen auf Hitler, beim Polenfeldzug veröffentlichte sie den Gedichtband »Ostland«, in dem sie schrieb, es fülle sie »demütiger Dank, daß [sie] dies erlebe«, jawohl, demütigen Dank, daß Danzig, Westpreußen, Posen und Teile Oberschlesiens vom polnischen Terror befreit würden und ihre Heimat Ostpreußen von der strangulierenden Erpressung des polnischen Korridors. Daß alles dadurch nur noch schlimmer werden würde, konnte damals niemand wissen. Was ist an Hoffnungen verwerflich? Und gilt die liberalistische Meinungsfreiheit nur dann, wenn es auch die richtige Meinung ist?
Was Agnes Miegel am meisten vorgeworfen wird, ist der Umstand, daß sie nach der Niederlage weder öffentliche Zerschnirschung zeigte oder anderen früher Verehrten die Schuld am eigenen Irrtum vorwarf. Dies ist nicht nur nicht verwerflich, sondern bewunderungswürdig. Tausende haben es sich leicht gemacht, den wehrlosen Toten die Schuld zugeschoben, aber Agnes Miegel hat immer betont, was sie versäumt oder gefehlt habe, habe sie allein mit Gott abzumachen und nicht mit den Siegern in diesem ungleichen Krieg und deren Helfershelfern. Eine Haltung, die für Christen selbstverständlich sein sollte.
Nun wird ja beileibe nicht nur von erklärten Linken die Ansicht vertreten, Faschismus sei keine Meinung, sondern per se ein Verbrechen. Die Ansicht ist zugleich ein Freibrief für jene, die den Faschismus-Vorwurf erheben, denn diese sind die nämlichen, die immer wieder ex post facto definieren, was denn eigentlich faschistisch sei. Wenn nun etwa die Wikipedia genüßlich alle Schulen und Straßen aufzählt, deren Benennung nach Agnes Miegel zurückgenommen wurde, so ist festzustellen, daß die Benennungen alle nach dem Krieg vorgenommen worden waren, als die angeblichen Verfehlungen von Agnes Miegel allgemein bekannt und nachzulesen waren. Wikipedia schreibt stolz: »Mit dem Paradigmenwechsel in der Sicht auf den Nationalsozialismus setzte sich dann eine ablehnende Haltung auch gegenüber dem Erinnerungskult im Fall Miegel durch.« Ich übersetze ins Deutsche: »Nachdem sich bei den Vertriebenen die Vergreisung abzeichnete und sie als Wähler und Gut-Wetter-Macher des Antikommunismus nicht mehr gebraucht wurden, setzte die nächste Stufe der Verkleindeutschung ein.« Und ins Lutherdeutsche: »Der alt’ böse Feind mit Ernst er’s jetzt meint.« Wenn wir zurückweichen, wird er nur frecher.
Im letzten ist aber auch Agnes Miegels Haltung zum Nationalsozialismus nur Mittel und nicht Ausgangspunkt der Feme. Schon ihr Frauenbild ist für den heutigen Zeitgeist unakzeptabel und sie wurde ja auch niemals von der Emanzipationsbewegung auf den Schild gehoben. Die Neuromantik, die Wiederbelebung der Ballade, ja die ostische Gestimmtheit – das alles ist Gift für den american way of life oder, nach einem Worte von Konrad Lorentz, für die Verhausschweinung des Menschen. Man braucht nicht einmal Christ zu sein, um auf der Seite der Dichtung und der Dichterin zu stehen, es genügt, daß man einen kleinen Rest von Menschenwürde und kritischer Intelligenz behalten hat.
Der Abend klang in großer Heiterkeit bei Bier und Wein aus. Ich konnte beobachten, daß neue Freundschaften geschlossen wurden. Alexander von Hohentramm hatte mir in Neustadt versprochen, er würde seine Gitarre mitbringen, bei der Ankunft in Einbeck stellte er fest, daß er sie vergessen hatte. Kurz entschlossen kaufte er eine neue und konnte so am Samstag beim Morgensingen den erkrankten Wolf-Dieter Tempel vertreten. Danach trat der Dichter Uwe Haubenreißer aus Nordhausen auf. Ich lernte Uwe Haubenreißer 1990 kennen, als die DDR gerade die D-Mark eingeführt hatte und die Wiedervereinigung vor der Tür stand. Rolf Schilling hatte seine Getreuen wie alljährlich am Grab Friedrich Nietzsches auf dem Kirchhof zu Röcken versammelt, nach sieben Jahren Exil in Bayern war ich wieder dabei. Gleichzeitig war die Fertigstellung der jahrelang vorbereiteten damals siebenbändigen Gesamtausgabe der Werke Rolf Schillings zu feiern und ich lud im Anschluß alle in den Hof meiner Eltern auf Arnshaugk ein.
In den frühen neunziger Jahren habe ich dann bei allen Besuchen bei Rolf Schilling, nebenbei bemerkt, zum Unwillen des Hauptgastgebers, einen Ausflug zu dem eine Fußstunde entfernt wohnenden Uwe Haubenreißer gemacht. Uwe Haubenreißer galt schon damals im Hause Schilling als Abtrünniger. Er mißtraute dem »Wortgeklingel« und dem überzogenen Pathos großer Themen. Neben dem übermächtigen Schilling suchte er seine Nische in der kleinen Form und in der Übung der Anschauung. Dazu paßt, daß er ein leidenschaftlicher Botaniker ist. Aus der Nische ist mit den Jahren längst eine Welt geworden, und dies zeigt wieder einmal, daß mancher, der sich im Anspruch bescheidet, weiter kommt, als andere mit großem Sendungsbewußtsein. Die Prüfung lebensbedrohlicher Krankheit hat ihn reifen lassen, auch die Beharrlichkeit bei seinem mal spielerischen und mal ernsteren Ringen um Ausdruck und Genauigkeit. Zu erwähnen ist auch das Formende seines Einsatz für Literatur, er hat Raritäten ausgegraben und Bücher in Handarbeit gefertigt, besondere Leidenschaft zeigte er für den Dichter Horst Köhler, der neunzigjährig zu unserer Tagung kommen wollte, es aber wegen einer Beinamputation im letzten Jahr und der noch nicht ausreichend vollzogenen Gewöhnung an ein Agieren im Rollstuhl auf nächstes Jahr verschieben mußte. Uwe Haubenreißer hat den ersten Band einer dreibändigen Ausgabe von Horst Köhlers Werken gesetzt und auch veranlaßt, daß zugeordnete Photographien des Autors mit Tusche nachgezeichnet wurden. Das Buch mit den gesammelten Gedichten ist im Herbst bei Arnshaugk in Leinwand gebunden erschienen, die gesammelte Prosa ist bereits gesetzt und befindet sich in der Korrektur. Der dritte Leinenband wird eine Nachlese aus kleineren Werken und Vermischten enthalten.
Man wird sich wundern, wieso ein Autor, der seit vielen Jahren dichtet und Bücher anderer Autoren herausgibt und fertigt, kein eigenes Buch vorlegt. Dies habe Zeit, wiegelt der Autor ab. Überhaupt seien die Dinge, die er mache, so vielfältig und auch in der Tendenz oft gegenläufig, daß er sich nur schwer ein organisches Zusammenstehn vorstellen könne. Ich kann nur hoffen, daß der Anklang, den Uwe Haubenreißer auf dieser Tagung fand, seinen Teil beitragen möge, die publizistische Zurückhaltung aufzugeben. In den Ausgaben des »Lindenblatts« der letzten Jahre befinden sich etliche seiner Gedichte, Beobachtungen und Stimmungen und auch solche, die man Weisheitsdichtung nennen muß. Darüberhinaus ist er reichlich in der Rubrik »Zwischenspiel« vertreten, wo sich Formspiele, intellektueller Nonsens, Parodie und Sarkasmus abwechseln.
Uwe Haubenreißer begann seinen Vortrag einer Reihe von Sonetten zur Kunst des »Sonettierens«. Mit dem heiteren Einstieg machte er gleich am Anfang deutlich, daß er nicht gewillt sei, die Hörer zu langweilen. Dazu ist anzumerken, daß Sonette, die das Verfertigen, Struktur, Schwierigkeiten, Möglichkeiten und Grenzen des Sonetts zu Inhalt haben, lange Tradition haben. Immer wieder haben Dichter dieser hermetischen Form über das Verhältnis von Form und Inhalt, über Strenge und Freiheit nachgedacht oder sich auch über die Grille, solches zu unternehmen, lustig gemacht. Da ich im Gegensatz zu früheren Rückschauen diesen ohnehin schon langen Text nicht durch umfangreiche Zitate aufblähen will, verweise ich auf die weiteren Beiträge der Rubrik »Aus dem Arbeitskreis für deutsche Dichtung«, wo auch diese Sonette zu finden sind.
Auch nach dem Sonettieren blieb es kurzweilig, Elegisches neben Menschlich-Allzumenschlichen, Beobachtung neben Reflexion, durchaus eine Art Heerschau des Gedichts in einer knappen Stunde. Manches konnte man beim ersten Hören nicht recht würdigen, aber die Zuhörer merkten deutlich, daß in diesen eher kleinen Werken alles stimmte, bis auf das i-Tüpfelchen, könnte man sagen. Elegant und bescheiden zugleich, offen und geheimnisreich. Es war deutlich zu spüren, es steht ein echter Dichter vor einer Zuhörerschaft, die ja durchaus nicht unverwöhnt ist. Es war nur schwer vorstellbar, daß die Begeisterung noch wachsen könne.
Nach einer Pause trat Alexander von Hohentramm ans Pult und trug eine Rede vor, die ebenfalls hier abgedruckt ist. Als junger Mensch wechselte vom Westen in die DDR und arbeitete sich als Journalist nach oben. Aber dann bekam er Berufsverbot, beantragte die Ausreise und schlug sich in bedrückenden Verhältnissen durch, bis man ihn ziehen ließ. Bald darauf fiel die Mauer, er betätigte sich als Unternehmensberater, gründete eine Computerschule für Frauen und war später Bauunternehmer. In der Unstetheit seiner Professionen und Wohnsitze blieb die Dichtung eine Konstante, ob satirisch oder elegisch, ob historisch im Drama, die Genauigkeit der deutschen Sprache war ihm immer Meisterin. Eine Anedote zeigt ihn beispielhaft. Als die ungarisch-österreichische Grenze durchlässiger wurde, versuchte er Frau und Kinder in den Westen zu holen und bewegte sich zu diesem Zwecke ungesetzlich in die entgegengesetzte Richtung. Dabei geriet er im unübersichtlichen Gelände in eine Streife. Der Offizier, der ihn verhörte, fragte ihn nach seinem Beruf, und er antwortete, er sei ein deutscher Dichter. Skeptisch verlangte der Offizier um eine Probe. Die hat ihn so überzeugt, daß er den Grenzverletzer laufen ließ.
Diese Anekdote sagt nicht nur etwas über den Dichter aus, sondern auch über Ungarn, ein Land das heute schon fast wieder als Schurkenstaat dasteht. Zur Deutschfreundlichkeit der Ungarn und von ihrer Hochschätzung der deutschen Dichtung ließe sich manches sagen.
Es war eine kluge Entscheidung, daß der Dichter, der eine ganze Reihe von Gedichtbüchern vorzuweisen hat, Essay und Vers auf kunstvolle Weise verband. Denn unsere Aufmerksamkeit braucht die Abwechslung nicht nur in Thema und Stil, sondern auch in der äußeren Form. Hohentramms Verse, oft imperativisch mit einer Strenge in der Tradition der Moralisten, was freilich nicht mit moralisierend verwechselt werden darf, entfalteten durch die Art und Weise, wie sie gezielt in die Rede eingebunden wurden, eine größere Wirkung als ein Vortrag, der Gedicht neben Gedicht stellt und allenfalls mit Spontanprosa übergeleitet. Die Rede war ein Manifest, aber das kann ja jeder selbst nachlesen. Die Wirkung war groß. Ich glaube, ich kann für die Allgemeinheit sprechen, wenn ich behaupte, es hätte greifbar ein Bewußtsein im Raume gestanden, das Jammertal der deutschen Dichtung neige sich endlich seinem Ende zu.
Nachdem die beiden Vortragenden die einräumte Frist nicht ausgeschöpft hatten und noch eine halbe Stunde bis zum Mittagessen blieb, zog ich einen Beitrag vor, der erst für Sonntag geplant war. Der Sonntag ist ein bißchen die Schmuddelecke für Referenten, und auf Terminwünsche angesprochen, sagten einige, es möge nur nicht der Sonntag sein. Am Sonntag reisen manche schon morgens, andere im Laufe des Vormittags ab, wieder andere sammeln ihr Gepäck ein, es sind noch Rechnungen zu begleichen, der baldige Aufbruch überschattet die Aufmerksamkeit. Um dies niemandem sonst zuzumuten, hatte ich mich entschlossen, die Vorträge am Sonntag allein zu bestreiten, allein für den ganz kurzfristig geplanten Baal Müller fand ich keinen anderen Termin mehr. Nun sah ich die Möglichkeit, ihn früher zu Wort kommen lassen, gegebenfalls wäre am Sonntag noch eine Fortsetzung möglich.
Baal Müller ist Germanist und wurde über die Münchner Kosmiker, also über Ludwig Klages, Alfred Schuler, Karl Wolfskehl, Stefan George und Albert Verwey, promoviert, denen er seither als Publizist und Verleger treublieb. Dieser Kreis berührt sich personell und inhaltlich mit dem George-Kreis und der Konservativen Revolution. Darüberhinaus ist Klages einer der großen Anreger des zwanzigsten Jahrhundertes. Bekannt ist vor allem sein Werk »Handschrift und Charakter«, mit dem er eine Schule der Graphologie begründet hat. Es ist aber völlig verfehlt, ihn auf ein solches Spezialgebiet zu reduzieren. Seine Ausdruckskunde verstand sich als Gegenstück zu zergliedernden modernen Psychologie. Es gibt kaum einen Philosophen, der so viele Dichter kannte und so viele begeisterte. In der Jugendbewegung hatte sein zivilisationskritisches Grußwort an den Ersten Freideutschen Jugendtag, der 1913 auf dem Hohen Meißner stattfand, große Wirkung.
Von einem Dichter-Schriftsteller, der so tief in den Wurzeln des Bündischen und also in der Tradition des Arbeitskreises wurzelt, durfte ich große Wirkung in unserem Kreis erwarten. Über die Frage, warum sich der Vortragende mißverstanden fühlen mußte, habe ich danach viel nachgedacht. Da ist zunächst einmal der Umstand bedeutsam, daß der heidnische Impuls bei Klages, die Wiederentdeckung der Erde und der Leiblichkeit, in großen Kreisen seiner Rezeption eine antichristliche Tendenz angenommen hat, die ursprünglich so nicht vorhanden war. Was auf dem Hohen Meißner nur kirchenkritisch war, und eine Zivilisationskritik in dieser Zeit konnte die Kirche schlecht aussparen, wurde von Generation zu Generation immer mehr zum Bruch mit dem Christentum überhaupt. Ein Schelm, der arges dabei denkt. Das Buch »Odin, Buddha, Pan & Darwin« von Peter Bickenbach geht der Frage nach, wieso gerade in konservativ-nationalen Kreises sich so viel Anti-Christentum breitgemacht hat, und ist als Aufklärungslektüre sehr zu empfehlen. Daß man uns gegeneinander ausspielen will, ist offensichtlich. Christus ist nicht der Heiland, der die Eichen fällt und die Menschen zwangsbekehrt.
Wenn Baal Müllers Literatur von einem grundsätzlichen, meiner Meinung nach mißverständlichen, Skepsis gegenüber dem Christentum geprägt ist, hätte sein Auftritt darunter nicht notwendig leiden müssen. Schließlich sind wir ein literischer Arbeitskreis, keine Prüfer der Rechtgläubigkeit. Auch führen die im Arbeitskreis besonders geschätzten Dichter vielfältige heidnische Motive fort. Was war es also dann?
Zunächst einmal machte Baal Müller am Beginn seine Vortrags einen recht konfusen Eindruck, verschanzte sich hinter dem Pult und hielt kaum Kontakt zum Publikum. Nach zehn Minuten hatte er noch keinen Vers rezitiert, aber auch keinen Sympathiebonus erworben. Ein besonderer Schnitzer war es, daß er vor einem Gedicht, daß die Wendenmission scharf angriff, betonte, er wolle niemandes religiöse Gefühle verletzen. Das entscheidende aber bleibt, daß er seine Verse von heidnischer Düsternis nicht so vortrug, daß irgendjemand einen heiligen Schrecken spürte. Dann wäre es zu gar keiner Religionsdiskussion gekommen. Offenbar hat Baal Müller bisher seine Verse nur vor einem Publikum gelesen, das seinen Grundansichten eher unkritisch folgt. So hat er nie geübt, das Publikum auf seine Seite zu ziehen. Ich habe ihn im späteren Gespräch mit dem Beispiel von Björn Clemens konfroniert. Der trug etwas vor, was in diesem Kreis eigentlich völlig verpönt ist, politische Lyrik. Aber er tat es wie ein Anwalt vor Gericht, der nach jedem Satz sorgsam die Wirkung seiner Worte prüft und rhetorisch alle Register zieht, die Hörer gewogen zu machen. Im übrigen möchte ich Baal Müller an dieser Stelle noch einmal versichern, daß ich als Dichter schon ganz andere Reinfälle erlebt habe. So schlimm, wie der Dichter später meinte, war es nämlich nicht. Die gute Stimmung ging nicht verloren, der Beitrag wurde letztlich als Bereicherung der Buntheit gewertet.
Beim Mittagessen wurde ein Fehler in dem am Vortrag mit Reiner Niehus zusammengestellten und dann photokopierten Tagungsprogramm entdeckt. Während die Mitgliederversammlung in der Einladung korrekt auf 14.30 Uhr angesetzt war, hatte sich hier die Uhrzeit 15.00 Uhr eingeschlichen. Das mußte ich unbedingt revidieren, weil einige Teilnehmer, die am Abend abreisen wollten, den Auftritt von Christian Glowatzki nicht verpassen wollten. Es wurden also rasch alle Mitglieder mündlich informiert, etliche wiederholt, weil im Speisesaal die Bereitschaft, organisatorische Hinweise zur Kenntnis zu nehmen, unzureichend war. Die Mitgliederversammlung fand dann pünktlich und ohne Zwischenfälle statt. Alexander von Hohentramm und Björn Clemens nahmen als neue Mitglieder an der Versammlung teil. Der Vorstand wurde entlastet und Frau Merlind Dröse zur zweiten Kassenprüferin gewählt.
Im Anschluß trat Björn Clemens auf und erläuterte seinen Werdegang als Anwalt und politischer Schriftsteller, der in Etappen Gedicht, Essay und Roman für sich entdeckt und heute mit verschiedenen Themen pflegt. In Abgrenzung zu anderen Dichtern nimmt er auch im Gedicht Unvollkommenheiten bewußt in Kauf und hütet sich vor einem Perfektionsanspruch, der dann durch einen einzigen Schnitzer wiederlegt werden könnte. Sein Gedichtband »Schwarze Fackel«, der 2008 beim Aula-Verlag erschien, soll demnächst in einer revidierten Ausgabe erscheinen. Auch in den Essayband »Abendbläue«, schon im Titel ein Kontrapunkt zur Morgenröte, stellte er mit einigen Proben vor. Höhepunkt seines bisherigen literarischen Schaffens ist freilich der Roman »Pascal Ormunait«. Daß ein promovierter Rechtsanwalt, der auf politische Prozesse spezialisiert ist, einen Justizroman schreibt, überrascht nicht. Es handelt sich hier jedoch weder um eine Autobiographie noch um eine Selbstrechtfertigung. Der Held ist kein alter ego des Autors, sondern ein Antiheld, Opfer der deutschen Verhältnisse, der durch die Folgen von Multikulti in eine Abwärtsspirale gerät und zum Widerstand findet. Ein Bildungsroman und ein Sittenspiegel, aber ohne den üblichen konservativen Defätismus. Der Ausgang ist offen, aber gefaßt und kämpferisch.
Noch vor dem Abendbrot stellte Christian Glowatzki den ersten und größeren Teil seines Volkslied-Projekts vor. Nicht die Pflege des Überkommenen ist seine Sache, sondern das Neuschaffen auf Augenhöhe mit der Tradition, aber in Gefühl und Erfahrung der Gegenwart. Der heute in Franken lebende Preuße und bekennende Lutheraner, er trägt immer ein Holzkreuz am Hals, Komponist und Kirchenmusiker hat sich spät sein Musikstudium ertrotzt, wozu ihn die DDR nicht zuließ. Bekannt sind seine Orgelkompositionen, ein Klarinettenquintett und seine Reger-Interpretationen. In seinen Kompositionen bindet er atonale Elemente in tonale Strukturen ein und gewinnt so ungewöhnliche Klangerlebnisse, die gleichwohl nicht verschrecken oder überfordern. Er zeigt damit, daß Strukturen, die ein akademisches Schattendasein führen, in eine lebendige Musikkultur eingebunden werden können. Als ich zuerst davon hörte, dachte ich spontan an Brahms und Wagner, die von Zeitgenossen als unversöhnliche Gegensätze angesehen wurden, wer den einen schätzte, mußte den anderen verwerfen. Spätere Generationen sahen die Verschiedenheit weniger harsch. So fließen in einer lebendigen Kultur geschiedene Ströme endlich wieder zusammen. Erst im vorigen Jahr kam Glowatzki der Gedanke, daß Volkslied müsse nicht nur gepflegt, sondern produktiv erneuert werden. Zunächst vertonte er einige Dichter des 19. Jahrhunderts neu, wobei er aus Rücksicht auf die leichte Singbarkeit von atonalen Zutaten deutlich geringer Gebrauch machte als etwa im Kavierquintett. Bald reichte ihm das Themenspektrum der alten Verse nicht mehr aus, er sah sich nach geeigneten zeitgenössischen Dichtungen um. Die Reihe der Enttäuschungen war lang, und ich fühlte mich bei dieser Schilderung an einen Besuch in der Herder-Buchhandlung in München kurz nach meiner Ausreise aus Mitteldeutschland erinnert. Dort gab es etwa acht Regalmeter Gedichte, etwas, was heute im Buchhandel völlig undenkbar ist. Ich schlug jeden der allgemein sehr dünnen Bände auf, man stelle sich vor, wie lange das bei acht Metern dauerte. Ich war überzeugt, es müsse in dieser Fülle etwas zu finden sein, was ansatzweise mit meinem eigenen Versen oder mit den von mir bewunderten Vorbildern vergleichbar sei. Es war aber nichts dabei. Es war samt und sonders alles subjektivistisch und oft unverständlich, formlos und traditionsvergessen.
Christian Glowatzki sah schließlich in der »Jungen Freiheit« eine Werbung für Rolf Schillings »Lingaraja« und damit eine erste Spur zu zeitgenössischer deutscher Dichtung. Um Vertonungsrechte zu bekommen, nahm er mit mir als Schillings Verleger Kontakt auf. In der Folge dieser Begegnung besaß er bald eine kleine Bibliothek von Dichtern mit traditionalem Anspruch.
Da es in einer deutschen Jugendherberge heute leider kein Klavier mehr gibt, brachte der Komponist aus Franken ein elektronisches Keybord mit und baute es in der Vortragshalle auf. Man verzeihe mir den Anglizismus, aber es gibt kein treffendes deutsches Wort für diese Geräte, die aus elektronischen Pianos und elektronischen Orgeln entwickelt wurden. Er entschuldigte sich, daß er kein Sänger sei und die Altistin, die gewöhnlich zu seiner Begleitung sänge, erkrankt sei. So paradox es klingt, ich betrachte diese Erkrankung als Glücksfall. Gerade die geringere Professionalität steigerte die Authetizität und damit die Wirkung seines Spiels und Gesangs. Er begann mit Eichendorff, Uhland und Hölty. Auch zu Wilhelm Müllers »Lindenbaum« stellte er seinen Entwurf vor. Natürlich ist bei diesem Gedicht Franz Schuberts Vertonung so bekannt und volkstümlich, daß ein Neuvertoner wie ein Negativum um die bekannte Melodie herumschreiben muß, was dem Unternehmen eine gewisse unfreiwillige Komik gibt. Ich halte den Versuch gleichwohl für großartig, denn es ist das Ende aller Kultur, wenn man vor den Leistungen der Vergangenheit schaudernd erstarrt. Jede Generation muß die Meister befechten, daß Leben sei. Und manche Burg ist gefallen, nachdem sie hundert Mal erfolglos berannt wurde. Auch im Scheitern beweist sich der Mut.
War die Aufmerksamkeit auch schon beim ersten Akkord, den Glowatzki anschlug, hellwach und mit einer gewissen Tendenz zur Euphorie, so steigerte sich dies, als Glowatzki zu den zeitgenössischen Dichtern Horst Lange, Michail Savvarkis, Uwe Lammla, Florian Kiesewetter und einer Nachdichtung aus dem Französischen von Rolf Schilling kam. Was man nach den Triumphen des Vormittags für unmöglich halten mußte, es wurde der Höhepunkt der Tagung erreicht, und die Begeisterung war grenzenlos. Nach dem Abendbrot mußte Glowatzki einige Stücke wiederholen und erläutern, wie er die deutsche Musiktradition gewichtet. Als Alexander von Hohentramm und Uwe Haubenreißer wenig später abreisten, fragte mich Reiner Niehus besorgt, was denn nun aus dem Morgensingen werden solle. Ich lachte und meinte, er solle sich mal keine Sorgen machen, das würde Glowatzki erledigen. Ein wenig deftig im glücklichen Übermut fügte ich noch etwas von Aus-der-Hand-Fressen der bündischen Sänger hinzu.
Aus voller Überzeugung habe ich diesen Rückblick »Zwölfton in Einbeck« genannt. Der Arbeitskreis ist eine Gründung ehemaliger Bündischer, und für diese stand die Dichtung immer in nächster Nähe zum Liedgut. Daß die reiche Lieddichtung des Wandervogel keinen Nationaldichter hervorgebracht hat, möge sinnbildhaft für das deutsche Verhängnis im 20. Jahrhundert stehen. Auch die dreißiger Jahre sind Zeiten großer dichterischer Produktivität, aber zu dem Bildhauer Arno Breker gibt es kein Pendant in der Dichtung. Agnes Miegel und viele andere, so sehr man sie schätzen und pflegen muß, sie reichen nicht an Rilke und schon gar nicht an Kleist, Storm oder C.F. Meyer. Nationalkultur ist aber das Zusammengehen von Volks- und Hochkultur.
Wenn sich Christian Glowatzkis Volkslied-Projekt so entwickelt, wie man jetzt nach den ersten Ansätzen hoffen darf, dann wird damit auch ein Verspechen des Wandervogels eingelöst. Ich glaube, dies haben die Hörer instinktiv gespürt.
Es ist vielleicht überflüssig zu betonen, daß die Stimmung an diesem zweiten Abend dem Vortag in keiner Weise nachstand. Daß ich in der Einladung von trinkfesten Teilnehmern sprach, war gewiß nicht übertrieben. Björn Clemens feierte am folgenden Sonntag seinen 48. Geburtstag, zu dem ihm hiermit noch einmal herzlich gratuliert sei. Er hatte ursprünglich wohl nicht vor, so lange zu bleiben, nun aber orderte er zwei Flaschen Sekt, die um Mitternacht geköpft werden sollten. Allerdings war dann der Alkoholpegel schon so hoch, daß es Verschwendung gewesen wäre, den guten Tropfen darüberzukippen. Also begannen wir den Sonntag mit einem Sektfrühstück. Als ich nach allerlei organisatorischem Kram ins Blockhaus kam, wurde von den Sängern bereits »Frühlingserwachen« von Florian Kiesewetter in der Vertonung von Christian Glowatzki eingeübt. Bald war auch eine zweite Stimme zu hören. Mir blieb nun Zeit, meinen »Osterspaziergang« vorzutragen, den ich eine Woche zuvor speziell für die Tagung geschrieben hatte. Der Text befindet sich hier im »Lindenblatt« und er erscheint mir nach dem Erlebnis der letzten Stunden schon ein bißchen veraltet. Es ist eben doch zweierlei: vor dem Bildschirm sitzend die Gemeinschaft zu imaginieren und sie selig singen zu hören. Vor dem Krieg galt das gemeinsame Singen als Markenzeichen der Deutschen. Möge es wieder so werden!
Nach dem »Osterspaziergang« stellte ich noch drei Dichter vor, deren Verse im letzten Jahr in meinem Verlag erschienen sind, Horst Köhler, über den ich hier schon anläßlich Uwe Haubenreißers berichtete, außerdem Uwe Nolte und Ludwig Heibert. Uwe Nolte ist in Merseburg geboren, lebte viele Jahre in Halle an der Saale, dann fünf Jahre in Rußland und seit einem Jahr in Tirol. Den Lesern des »Lindenblattes« ist einige Lyrik von ihm bekannt. Wir werden ihn gewiß auf einer der nächsten Jahrestagungen erleben. Ludwig Heibert ist 2008 im Alter von 92 Jahren gestorben. Seine Töchter beauftragten mich mit der Edition seiner Verse. Er stammt aus Göschitz bei Schleiz in Thüringen, verlor im Krieg einen Arm, floh 1952 in den Westen, wurde in Braunschweig Lehrer und später in Göttingen Schulleiter. Als seine Frau 2004 starb, zog er zu seiner ältesten Tochter nach Wolfenbüttel. Er schrieb sein ganzes Leben über Gedichte, die ihm viel bedeuteten. Gegen Ende seines Lebens bekannte er:
»Doch lernte ich, den Augenblick zu messen.
Geübt mocht ich mich manchmal selbst vergessen.
Des Lebens undeutbarer Hintergrund
tröstet und heilet, was im Nahen wund.«
Mit diesen versöhnlichen Worten wurde das Programm der Tagung beendet. Zusammenfassend durfte ich feststellen, daß ein neuer Optimismus den Arbeitskreis beseelt und das Auflösungs-Unken hoffentlich dauerhaft vom Tisch ist. Natürlich stehen große Aufgaben für die Zukunft an. Dafür erbitten wir den Segen Gottes.
Nachtragen möchte ich noch, daß die Vortragenden Uwe Haubenreißer und Alexander von Hohentramm auf das versprochene Honorar samt Fahrtkostenerstattung zugunsten des Arbeitskreises verzichteten. Christian Glowatzki erklärte sich ebenso, in seinem Falle wurde das Opfer aber vom Vorstand nicht angenommen, der Mann hat zwei Kinder und seine liebe Not, sie als Musiker ohne Festanstellung durchzubringen.
Ich schließe mit den Worten eines Tagungsteilnehmers, die mich nach meiner Heimkunft von Einbeck erreichten: »Für die vergangenen Tage allen Dank, den ich geben kann! Eine außergewöhnliche Veranstaltung, wie ich sie bislang nirgends auch nur in Ansätzen vergleichbar erlebte. Das war keine intellektuelle Selbstbefriedigung, keine Mogelpackung mit der Aufschrift Kultur. Das war lebendig, nicht bloß Kreis, sondern eben auch Arbeit. Arbeit, die sicher noch viele Früchte tragen wird, wie wir sie etwa mit Herrn Glowatzkis Liedern bereits erleben durften.«